Axel, das Inkubatorküken
Wer möchte schon gerne in einer Maschine nach seiner Mama rufen?
Anfang April 2024 erreichte uns ein Notruf. Die Anruferin schilderte, dass sie für die Wohnung einer Freundin zuständig sei, da diese unerwartet im Krankenhaus gelandet sei. Mit deren Hühnern und anderen Haustieren sei alles ok, aber in der Küche stände ein Inkubator, in dem ein geschlüpftes Küken bereits seit gut 24 Stunden herumliefe und ein weiteres im Schlupf, also der Eierschale, festhing.
Vor Ort sicherten wir das muntere Küken und begannen direkt, die verklebten Stellen, an denen das zweite Küken in der Schale festhing, mit Kochsalzlösung zu lösen. Leider kamen aber alle Bemühungen für dieses Küken zu spät, denn es starb bereits in der ersten Nacht auf unserer Krankenstation. Wahrscheinlich fehlte dem unbewachten Inkubator Wasser, also stimmte die Luftfeuchtigkeit nicht, sodass das Küken einfach keine Chance hatte. Und so standen wir mit einem Waisen-Küken ohne Geschwisterchen da. Also war guter Rat teuer, denn eine Einzelaufzucht in Menschenhand ist nun mal nicht artgerecht. Zumal dem Küken bereits während der Brutzeit im Inkubator die natürliche Kommunikation mit der Glucke verwehrt geblieben war. Denn Fakt ist, dass Küken tatsächlich schon aus dem Ei heraus mit ihrer Mutter und den Geschwistern kommunizieren.
Die Lösung für unser Küken kam von Sandra, denn sie hatte eine zu dieser Zeit brütige Kampfhenne, die schon seit beträchtlicher Zeit auf Ton-Eiern saß. Und so holte ich Raja zu mir. Der Plan lautete: Raja samt Ton-Eiern in eine große Box setzen und im Laufe des Abends unauffällig das Küken unterschieben, damit sie glaubte, es sei in der Nacht geschlüpft und es dann als ihr eigenes annehmen würde. Den Plan hatten wir natürlich ohne Raja gemacht, denn kaum hörte sie das Küken piepsen, war sie nicht mehr zu halten und randalierte in der Box. Also haben wir es ihr einfach mal gezeigt und zu ihr in die Box gesetzt. Ein Disneyfilm hätte nicht rührender und schöner sein können, denn sie begrüßte es sofort mit einem sanften Gurren und schob es unter ihr Gefieder. Ab diesem Moment wurde ich zur Persona non grata erklärt, denn für Raja war klar: „Das ist mein Küken und kein Mensch darf es mir je wieder wegnehmen“. Raja hat noch zwei Tage gebraucht, um die restlichen Eier, also die Ton-Attrappen, aufzugeben, aber vom ersten Moment an war das Küken in besten Händen, also Krallen, denn sie tat alles für das Kleine, wie es sich für eine richtige Henne gehört. Sie legte ihm Futter vor und zeigte ihm die Wasserschale, sie nahm jede Leckerei – wie Wachsmaden oder Mehlwürmer – in den Schnabel, überprüfte die Qualität und die Essbarkeit und gab es dann an den Winzling weiter. Das Küken explodierte in den folgenden Tagen und Wochen förmlich, seinem Wachstum schienen keine Grenzen gesetzt. Die beiden konnten schon bald in einen separaten Stall mit kleinem Auslauf umziehen und dort frische Luft, Gras und Sonne genießen.
Und da sind wir schon beim nächsten Punkt: Was geht in brütigen Hennen vor, die auf unbefruchteten oder unechten Eiern sitzen und stur vor sich hinbrüten. Oft hören wir dann Sätze wie „Unsere Henne wollte unbedingt Küken haben und wir wollten ihrem Mutterwunsch nicht im Weg stehen“. Das ist tatsächlich Unsinn. Brüten und Aufzucht von Küken ist für Hühner genau wie für andere Vögel eine furchtbar stressige Zeit. Natürlich steht evolutionär der Drang zur Vermehrung im Vordergrund, aber mit Mutterglück wie wir Menschen es verstehen, hat das nichts zu tun. Wenn eure Hennen brütig werden und auf den Eiern festsitzen, macht es ihnen gemütlich, sorgt gut für sie und achtet darauf, dass sie nach gut 21 Tagen das „Gelege“ verlassen und wieder in ihren Alltag zurückkehren.
Natürlich haben wir für unser Küken gehofft, dass es eine Henne wird und somit nicht ein weiterer Hahn unsere Herren-Vermittlungsliste verlängert. Wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt ..., aber sie stirbt. Unser kleiner Winzling wuchs innerhalb weniger Wochen zu einem stattlichen Hahn heran. Sein Glück dabei war, dass Sandra nicht nur durch gemeinsame Zeit mit Raja und Axel (den Namen hatte der Kleine schnell weg) emotional gebunden war, sie hatte auch noch eine Hühner-Gruppe ohne Hahn, sodass Axel direkt in seinem For-ever-Home groß wurde und auch noch von Raja persönlich in der Gruppe vorgestellt und etabliert wurde. Heute überragt der wunderschöne Hahn seine Ziehmutter um gut zwei Köpfe.
Was lehrt uns die Geschichte? Natürlich ist es schön, mal zuschauen zu können, wie Küken groß werden und die Welt entdecken. Und sie sind auch wirklich super süß. Aber (!), es gibt so viele Hähne und Hühner, die dringend ein Zuhause suchen, Hühner denen die industrielle Schlachtung droht, Hühner, deren Besitzer sich gegen sie entschieden haben und sie abgeben oder gar aussetzen. Hühner aus unsinnigen Kindergarten- und Schulprojekten, in denen Eier ausgebrütet werden und hinterher niemand weiß, wohin nun mit den ausgewachsenen Tieren. Bitte helft uns, die Inkubator-Industrie in den Ruin zu treiben, damit in absehbarer Zukunft keine Waisenküken zu Hennen und Hähnen heranwachsen, die im schlimmsten Fall niemand haben möchte. Wenn ihr sehen wollt, wie Küken schlüpfen und groß werden, schaut euch Videos dazu an. Und wenn ihr Hühner haben wollt, kontaktiert uns und gebt den armen Tieren aus der Legeindustrie ein schönes Zuhause.